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Heute hatte er einen Termin bei der Personalchefin. Möglicherweise ging es um die weitere Anstellung. Grundsätzlich hielten ChefInnen sich immer bedeckt bei der Vorbereitung von MitarbeiterInnengesprächen. Das hatte Frank schon öfter amüsiert feststellenmüssen. Es ging immer um »die weitere Entwicklung der Abteilung« oder um »Optimierung der Arbeitsabläufe«. Nie hatte er sich als Mitarbeiter auf solche Gespräche inhaltlich vorbereiten können. Ihm war es egal. Am Ende stand fast immer die Kündigung. Es waren paradoxe Gespräche. Er spürte immer das schlechte Gewissen, das Leute hatten, die das Fünffache von jenen verdienten, denen sie sagen mussten, dass sie nicht weiter beschäftigt werden könnten. Und dann blickten sie aus dem Fenster und sagten, dass sie sich das Ganze nicht leicht gemacht und im gesamten Konzern nach Alternativarbeitsplätzen gesucht hätten …, aber die internationale Lage, und sicher werden Sie, Herr Smutny, bei Ihrer Qualifikation, leicht, sehr leicht wieder etwas Gleichwertiges finden, Sie haben ja keine Familie, und in Wien ist es viel besser als in London oder Hamburg; Sie glauben ja nicht, wie meine Kollegen aus Hamburg immer jammern, dagegen ist es ja bei uns …, sicher, es ist wenig tröstlich für Sie konkret, aber glauben Sie mir, es geht wieder aufwärts und wir haben ja Ihre Nummer, und in Ihrem Zeugnis steht nur das Beste; es muss ja da draußen niemand wissen, dass Sie kein Morgenmensch sind, wenn Sie wissen, was ich meine.
Frank verfolgte diese Monologe immer sehr distanziert, bemühte sich, ab und zu ganz leicht den Kopf hin und her zu wiegen; manchmal, wenn der Personalchef betonte, wie schwer er es selbst habe, sogar zu nicken und ansonsten ein würdevolles Mindestmaß an Betroffenheit an den Tag zu legen. Dabei dachte er schon viel mehr an Gerda, seine AMS-Betreuerin, die er bald wieder sehen würde. Die Betroffenheitsgestik war ausreichend, dass Frank, gekoppelt mit Geschichten über kaputte Waschmaschinen oder Sonderausgaben für Zahnkronen, ein zusätzliches Monatsgehalt als Abfertigung erhielt.
Frau Schneider erwartete ihn bereits, bot ihm ein Glas Wasser an und fragte unvermittelt, noch bevor er sich richtig in den Ledersessel gesetzt hatte: »Na, wie gefällt es Ihnen bei uns, Herr Smutny? « Sie klang wie eine Hotelchefin, die exotische Gäste nach ihrem Wohlbefinden fragte, was Franks Misstrauen verstärkte. »Sie wissen ja, dass aufgrund der positiven expansiven Geschäftsentwicklung einige von Ihnen eine dauerhafte Beschäftigung erhalten können, und Ihre Abteilungsleiterin hat mir berichtet, dass Sie als besonders ambitionierter Mitarbeiter auffallen.« Sosehr er sich auch bemühte, konnte er in der Stimme von Frau Schneider keine Ironie erkennen. »Danke.« – Erstaunlich, wie unerwartete Komplimente sprachverkürzend wirkten. »Da Sie sehr sprachgewandt sind und auch bei schwierigen Fällen nie die Contenance verlieren, haben wir uns gedacht, wir könnten Sie in den nächsten zwei Wochen probeweise in der ›Platin-Abteilung‹ einsetzen. Aufgrund von Krankenständen haben wir dort Engpässe, und es besteht für Sie die Chance, fix dort zu bleiben. Was sagen Sie dazu, Herr Smutny?« Frank dachte an Calla. Würde sie ihn dort auch anrufen können? Oder steckte sie vielleicht sogar hinter diesem Beförderungsplan, weil sie dort ungestörter reden konnten? Aber welche Rolle spielten die Abteilungsleiterin und diese Frau Schneider? – »Ich weiß, ehrlich gesagt nicht, ob Call-Center-Agent der richtige Beruf für mich ist, Frau Dr. Schneider«, sagte er und hoffte, über diese anmaßende Antwort irgendwelche Hinweise auf Calla zu erhalten. »Ihre Aufrichtigkeit in Ehren, Herr Smutny, Sie erhalten 20 % Gehaltserhöhung, geregelte Arbeitszeiten und eine bessere Büroatmosphäre. Ich will bis morgen Mittag eine Entscheidung von Ihnen.« Frau Schneider erhob sich ansatzlos aus ihrem Sessel und streckte Frank die Hand entgegen. Er drückte sie kurz und wandte sich zur Tür. »Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie unser Angebot annehmen.«
Frustriert stieg Frank die zwei Treppen hinunter in sein Office; Magda wies ihm Platz 11 zu und fragte ihn, ob er heute zwei Stunden länger bleiben könne, da sich zwei Kolleginnen kurzfristig krankgemeldet hätten. »Kann ich Nein sagen?« – »Eher nicht, mein Lieber.« Er loggte sich auf 11 ein und rekapitulierte: Seit drei Wochen hing er jetzt hier herum, weil er dazu gezwungen wurde; seine distanzierte Haltung wurde ihm als Sprachgewandtheit gutgeschrieben; eine Beförderung sollte ihn arbeitssüchtig machen, und widerstandslos ließ er sich mittlerweile Überstunden aufschwatzen. Dasalles, weil er mysteriöse Anrufe einer Frau bekam, die ihn wie einen Lehrling behandelte. Irgendwas lief gewaltig schief. Am Wochenende wollte er wieder mal raus fahren. An den Semmering. Höhenluft und Massenfreizeit. Da ließ sich gut über Verzwicktes nachdenken.
»Guten Tag, Sie sprechen mit Jean Améry, was kann ich für Sie tun?« »Wie gefällt dir das Arbeiten?« »Lass mich in Ruhe, ich hab jedenfalls nicht die Sucht, andere Leute telefonisch zu stalken!« Calla lachte, nicht abfällig, eher ehrlich amüsiert. »Fühlst du dich von mir gestalkt? Oder stalkt dich die Arbeit selbst mit all den kleinen und großen hierarchischen Gesten?« »Lass mich!« »Ich werde dich jedenfalls nicht stalken, meine Zeit ist zu kostbar, und wenn du irgendwas vom Leben begriffen hast, dann siehst du, dass unsere Gespräche nicht das Problem, sondern Teile der Lösung des Problems sind. Es liegt nur an dir, es ist kein Spiel. Ich werde mich morgen melden und dir zu Beginn die Frage stellen: ›Fühlst du dich von mir gestalkt?‹ Deine Antwort ist dann ein für alle Mal gültig; sagst du Ja, wirst du nie mehr ein Wörtchen von mir hören, sagst du Nein, möchte ich dieses selbstmitleidige Geschwafel von Stalking nicht mehr hören. Alles ist einfach und klar, du allein entscheidest das, okay?«
»Nichts ist klar, warum rufst du mich hier an? Warum mich? Und warum führst du mich wie einen Tanzbär an der Nase herum?Du lässt keine Grautöne zu; die Welt ist nicht schwarz-weiß, schon lange nicht mehr.«
»Weißt du, was dein Problem ist, mein Lieber? Du verwechselst Entscheidungsschwäche und Indifferenz mit feiner Differenziertheit. Es ist schon klug, ein Problem lange genug zu analysieren, aber irgendwann muss dann auch eine Entscheidung fallen. Die kann falsch sein, aber sie muss fallen. Und ob meine Gespräche für dich Stalking sind oder nicht, das kannst nur du entscheiden. Ein bisschen Stalking gibt es nicht. Und erwarte keine Antwort als die deine, wie Brecht es im Gedicht ›An den Schwankenden‹ schreibt. Ich muss jetzt, also bis morgen Mittag.«
Noch bevor er etwas erwidern konnte, hatte Calla aufgelegt. Frank starrte den Hörer an. Warum ließ er sich das gefallen? Eine Frau im Stil einer gelangweilten K-Gruppen-Frau der 80er-Jahre verarschte ihn gewaltig, und er spielte einfach mit. Aber was WOLLTE sie? Was? Er meldete sich ab, schälte eine Mandarine, entfernte sorgfältig die kleinen weißen Fäden und brachte die Hälfte bei Magda vorbei.
»Danke, voll nett, bist ein Schatz.« Magdas US-amerikanisch anmutende oberflächliche Überfreundlichkeit reizte Frank. An diesem Lack wollte er mal kratzen … wenn er tatsächlich noch länger in diesem Laden abhängen würde.
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